Mittwoch, 18. Januar 2017

Wiedergelesen: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943


Rezension

Wiedergelesen: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943
Von Matthias Dickel, M.A.

Der Penguin Verlag legt einzelne Werke des Autors Walter Kempowski neu auf. Im Jahre 2016 startete der Verlag mit der Neuauflage des schon lange vergriffenen zweiten Teils des Echolot-Projektes, die den Leser die dramatischen Ereignisse in der Zeit Januar und Februar 1943 nacherleben lässt: die Schlacht um Stalingrad, die Hinrichtung der Geschwister Scholl und Goebbels Aufruf zum totalen Krieg.
Der Beginn des zweiten Weltkrieges liegt nun schon über siebzig Jahre zurück. Viele Namen, Schlachten und politische Ereignisse sind im Laufe der Jahre verblasst oder vergessen. Ein Verstehen dieses Teils der Geschichte setzt mit der Vergegenwärtigung des Vergangenen ein. Dies geschieht am leichtesten über zeitgenössische Quellen oder das Befragen von Zeitzeugen. Doch auch die letzten Zeitzeugen werden bald nur noch Namen und Daten sein, was bleibt sind ihre Erinnerungen, mit denen wir, falls diese schriftlich oder mündlich festgehalten wurden, wenigstens eine Ahnung von dem erlebten Leid und Glück erhalten können.
Im kollektiven Gedächtnis verbleiben die überlieferten Erinnerungen in Form von Geschichten, Denkmälern oder anderen kulturellen Objektivationen. Die Literatur prägt besonders diese Form des Gedächtnisses, da sie als Speicher- und Zirkulationsmedium spezielle Funktionen in sich trägt. Walter Kempowski hat mit seinem mehrbändigen Werk „Das Echolot“ versucht, die Stimmen vieler einzelner Personen einzufangen und in einen Zusammenhang zu setzen. Es steht abseits der traditionellen narrativen Geschichtsschreibung, da das Werk einerseits eine unkommentierte Dokumentation verschiedener Stimmen aus unterschiedlichen Quellen darstellt, andererseits durch die Collagetechnik zu einem einzigartigen Kunstwerk wird, welches speziellen ästhetischen Kompositionsmustern folgt.
Walter Kempowski versuchte schon in frühen Jahren sein Lebensschicksal auf besondere Weise zu verarbeiten. Schon kurz nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Bautzen, begann er seine Erfahrungen als politischer Häftling niederzuschreiben und in Bildern zu skizzieren. Sein Schicksal und das seiner Leidensgenossen sollte nicht ungehört bleiben. Seine Erinnerungen wurden zum Grundstein seines literarischen Archivs.
Im März 1978 notierte der Schriftsteller seine Idee zur Gründung eines Archivs für ungedruckte Lebenserinnerungen. Am Neujahrstag des Jahres 1980 eröffnete Walter Kempowski offiziell sein Archiv und veröffentlichte in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Suchanzeige. Die Resonanz war schon im ersten Monat seiner Gründung überraschend groß. Kempowski sammelte neben den Lebensbeschreibungen auch historische Photographien, Briefwechsel und Tagebücher.
Für Kempowski wird die Geschichte erfahrbar im erlebten Alltag der Menschen; ihre Lebensformen und Denkhaltungen werden vor dem Gesamtzusammenhang der historischen Entwicklung dechiffrierbar. Damit verweisen die Schicksale und Lebenswege in die Gegenwart und werden zum Spiegel der persönlichen Lebensanschauung.
In dem Collagenwerk „Das Echolot“ verzichtet Kempowski auf eine Erzählerstimme, die das Geschehen kommentiert und in einen Erzählfluss einbettet. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen den einzelnen Stimmen, die Personen stehen gleichwertig nebeneinander. Es besteht die Gefahr eines naiven Geschichtsbildes, indem „die Guten, auch immer ein wenig böse sind, und die Bösen, auch von einer Mutter geboren wurden.“[1] Dieser intendierte Tabubruch stieß bei den Rezensenten auf Kritik, die in diesem Gestaltungsprinzip eine Verharmlosung der Geschichte vermuteten, da die der Grenzen zwischen Täter und Opfer aufgehoben würden.
Mit der Komposition und dem Arrangement der verschiedenen Einzelstimmen soll das Vergangene begreifbarer gemacht werden. Gerade durch die unkommentierte Zusammenstellung soll dem Leser ein unmittelbares Einfühlen in den geschichtlichen Kontext ermöglicht werden, denn die fehlende Relativierung des Gesagten durch einen Erzähler ermöglicht dem Leser eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Erlebnissen und Aussagen der Stimmen. Die unausgesprochene Aufforderung zur selbständigen Erarbeitung des geschichtlichen Hintergrundes ist das geschichtspädagogische Prinzip des Schriftstellers Kempowski.
Die Frage nach der Schuld und den Ursachen kann und will der Autor in seinem Werk nicht beantworten; dem Leser verbleibt letztendlich die Aufgabe, Aufklärungsarbeit zu leisten. Das Echolot kann keine vollständige Abbildung des Geschichtsverlaufs leisten.  Es soll der Prozess der Geschichte nicht mittels der offiziellen Quellen dokumentieren werden, sondern der Autor sucht dessen Auswirkungen im Alltäglichen und Individuellen. Kempowski formulierte in einem Interview dies so: "Das Allerprivateste ist auch das Allgemeinste."
Die Quellen, auf die sich Kempowskis Werk stützt, bestehen zumeist aus veröffentlichten und unpublizierten Autobiographien, Memoiren, Tagebücher, Briefwechsel und auch Fotografien. Dabei sind die bürgerlichen Zeitzeugen, also Angestellte, Akademiker, Ärzte usw. eindeutig überrepräsentiert sind. Unter den Soldaten finden sich eindeutig viele, bei denen man einen höheren Bildungsabschluss vermuten kann. Der Anteil der Schriftsteller und anderer Künstler ist überraschend hoch. Die Darstellung im Sinne einer „Geschichte von unten“ ist in diesem Falle nur bedingt möglich.
Doch geht es Kempowski weder um die Rekonstruktion eines kausalen Geschichtsverlaufs, noch um eine Geschichtsschreibung im Sinne der „Oral history“. Das Echolot bleibt ein literarisches Werk, das ästhetischen Regeln folgt und von der Wechselbeziehung zwischen Autor und Leser lebt. Kempowskis Interesse folgt letztendlich der Fragestellung: „Wie wird Geschichte wahrgenommen, wie äußert sie sich in der Sprache und welche Eigendynamik entwickelt sie in der Erinnerung?“[2]
Walter Kempowski hat mit seinem Werk „Das Echolot“ versucht, in einem kollektiven Tagebuch individuelle Erinnerungen miteinander zu verknüpfen und ihnen in einem neuen Kontext einen anderen, umfassenderen Bedeutungszusammenhang zu geben. Durch den multiperspektivischen Rahmen überlässt der Autor dem Leser die Erarbeitung der Themen und Hauptfiguren. Es bleibt somit Leser überlassen, die zentralen Botschaften und Figuren des Werkes herauszuarbeiten und die eigene, ganz persönliche Version der historischen Ereignisse zu erzählen.

Bibliografische Angabe:
Walter Kempowski: Das Echolot Ein kollektives Tagebuch. Januar/Februar 1943. Penguin 2016. 3.056 Seiten. ISBN: 978-3-328-10076-8. € 98,00 [D]


[1] Sentenz in Anlehnung an Kempowski; Walter: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. Band 1. München 1993. S. 7.
[2] Schallie, Charlotte: Verwalter der Erinnerung. In: H-German, H-Net Reviews. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=11330 (28.05.2011).